Liesl Lies und die Leselixen

Titelbild: Liesl Lies und die Leselixen

 

Für Kinder ab 8

Denk an das Gegenteil ...
                       ... von dem, was andere behaupten!

Was soll die „dumme“ Liesl mit diesem Ratschlag anfangen?
Sogar zum Lesenlernen scheint sie zu dumm zu sein.
Wie gut, dass sich plötzlich jemand um sie kümmert: H-Tebasile Redelies, eine Leselixe!
Aber die scheint ja Verwandte zu haben...


Leseprobe

Kaum war die Mutter ins Büro gegangen, stand – am helllichten Tag – eine Leselixe mitten in der Küche. Das war bestimmt kein Zufall!
    „H-Tebasile Redelies!“, staunte Liesl.
    „Nix H-Tebasile!“, erwiderte die Leselixe mit einer etwas ungewohnt klingenden Stimme. „Ich bin nur der Zwilling. Aber ich komme mit. Husch, husch, kleine Liesl! Ich möcht’ dich gern in deinem roten Wintermantel sehen.“
    „A-aber ...“, stotterte Liesl verblüfft.
    „Nix ,a-aber‘! Du hast doch einen roten Wintermantel, oder?“
    „Äh – ja.“
    „Na fein! Ich hätt’ auch gern einen roten Mantel. Rot ist meine Lieblingsfarbe. Aber Schwarz – bäh!“
    „Schwarz ist auch nicht schlecht, vor allem wenn es so schön glänzt“, meinte Liesl, während sie – noch immer verwirrt – den schwarzen Mantel der Leselixe betrachtete. „Wie heißt denn du?“
    „Nenn mich einfach Zwilling“, entgegnete die Leselixe. „Ich habe gehört, du hast ein paar herrlich warme Pelzstiefel. Die möcht’ ich gern sehen.“
    „Äh – ja“, entgegnete Liesl. Sie begriff, dass der Zwilling nur darauf wartete, dass sie sich für den Spaziergang fertig anzog. Das musste ein ungewöhnlicher Spaziergang werden – mit einem Leselixenzwilling!
    Zwei Minuten später war Liesl startbereit: mit Pelzstiefeln, rotem Mantel und weißen Wollhandschuhen.
    „Mütze brauchst du keine?“, fragte der Zwilling.
    „Nein“, antwortete Liesl. „Es ist nicht mehr so kalt. Außerdem habe ich mir nicht die Haare kurz schneiden lassen, da bleiben die Ohren drunter schön warm.“
    „Ah, ein Naturpelz also! Gescheit!“, meinte der Zwilling. „Wenn ich dich mir so ansehe, bin ich erleichtert.“
    „Erleichtert? Wieso?“
    „Weißt du, ich denke oft genau an das Gegenteil von dem, was andere sagen; und H-Tebasile Redelies hat gesagt, du seiest ein nettes Mädchen. Also hab’ ich mir gedacht: Das Gegenteil davon wäre schrecklich: ein frecher Fratz.“
    „Das bin ich nicht!“, beteuerte Liesl. Verlegen fügte sie hinzu: „Ich bin nur ... ein bissel dumm – sagen die anderen.“
    „Sagen die anderen?“ Der Zwilling nickte pfiffig. „Wenn ich mir also das Gegenteil denke: Du bist ein bissel gescheit. Beginnen wir mit etwas Gescheitem: mit einem Spaziergang in der frischen Luft!“
    „Ja, gern!“, rief Liesl.
    „Moment, nicht so schnell!“ Der Zwilling streckte die Hände aus, als wolle er Liesl zurückhalten. „Zuerst muss ich dir etwas beichten.“
    „Beichten?“ Liesl zog erstaunt die Brauen hoch.
    „Ja, beichten“, wiederholte die Leselixe. „Ich habe H-Tebasilie Redelies zwar versprochen, dass ich ihr den Gefallen tue und mit dir gehe. Aber ich lasse mich tagsüber nicht gern von den Menschen sehen. Du weißt ja – wenn jemand anders aussieht als sie, machen sie oft dumme Bemerkungen. Drum muss ich auch etwas machen.“
    „Was denn?“
    „Ich mach’ mich unsichtbar.“
    „Jö!“
    „Keine Angst, ich bleibe immer neben dir. Aber sprich bitte nicht, wenn Leute kommen.“
    „Warum nicht?“
    „Weil sie mich nicht sehen. Dann glauben sie, du redest mit der Luft, und sie halten dich für verrückt.“
    „Ich werde aufpassen. Gehen wir!“
    Liesl ging voraus. Kaum war sie auf die Straße getreten, schien die Leselixe verschwunden zu sein.
    „He, Zwilling!“, rief Liesl mit gedämpfter Stimme.
    „Pst!“, wisperte jemand dicht neben ihr. „Ich bin ja da. Aber sei jetzt still! Dort drüben kommt jemand. Potz Blitz, der redet mit sich selber!“
    Tatsächlich: Aus einer der benachbarten Wohnungstüren war soeben ein kräftiger Bursche mit dunkler Jacke, dunkler Mütze und ledernen Fäustlingen herausgetreten. Spöttisch rief er: „Quatsch keinen Unsinn, du tepperter Esel!“
    „Der hat eine derbe Ausdrucksweise“, flüsterte die Leselixe. „Außerdem hat er Ohrenschmerzen. Schau, er greift sich dauernd ans Ohr.“
    „Nein“, erwiderte Liesl. „Er telefoniert mit einem winzigen Handy. Jetzt kommt er her.“
    „Pst!“, warnte die Leselixe.

Liesl merkt bald: Der Zwilling ist ein Witzbold, immer zu Streichen aufgelegt. Aber wird Liesl auch etwas von ihm lernen können? Und wie meint er das, wenn er erklärt, dass er oft genau das Gegenteil von dem denkt, was andere sagen?

 

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