Das Silberwerk

Titelbild: Das Silberwerk


Für Kinder ab 9

Wie ein Angsthase versucht,
                                    Schritt für Schritt mutig zu werden

Als „Angstling“ und „Feighase“ muss sich Teddy von Roland, dem frechen Nachbarsbuben, verspotten lassen.
Das soll nicht so bleiben! Darum will Teddy für seine kleine Freundin Meli einen „Silberstein“ holen –
obwohl er noch immer nicht genau weiß, wo das alte Bergwerk versteckt liegt.


Leseprobe

 Teddy setzte sich ans Küchenfenster und überlegte. Draußen schien die Sonne, es war schade, die Zeit drinnen zu verschwenden. Die Mutter hatte Teddy nicht verboten, mit dem Rad spazieren zu fahren, er konnte also ein kleines Stück in Richtung Ulrichstraße – ach, wieder Unsinn! Dann müsste er ja an Rolands Elternhaus vorüber; und wenn sich Roland wie üblich im Garten oder auf der Straße herumtrieb, ließ er Teddy bestimmt nicht vorbei, ohne ihm lästige Fragen zu stellen ...
    Na wennschon! Mit dem Fahrrad konnte Teddy ihm leicht entwischen. Zum Nachlaufen war Roland sowieso zu faul. Anschließend hinderte Teddy niemand mehr daran, dieselbe Strecke weiterzufahren, die er am Vortag mit den Eltern gewandert war. Nicht einmal in der „Hundesiedlung“ brauchte er sich zu fürchten, er wusste ja:

Ich biege ab beim grauen Haus
und trickse alle Hunde aus!

    Zumindest bis zum „Einserweg“ konnte Teddy es leicht schaffen. Vielleicht fand er dort eine Stelle, von wo aus das Bergwerk zu sehen war ...
    Teddy staunte. Wie weit er in Gedanken schon gekommen war: an Roland vorbei, an den Hunden vorbei, bis zum „Einserweg“, ja sogar bis zum Silberwerk; und in drei Stunden war er vielleicht schon zu Hause – mit einem Silberstein für Meli! Kaum zu glauben! Aber alles nur in Gedanken ...
    „Wenn ich bloß nicht so ein Angsthase wäre!“, dachte Teddy seufzend.
    Was täte jetzt an seiner Stelle jemand, der kein Angsthase war? – Bestimmt nicht länger beim Küchenfenster herumsitzen und dumm hinausgaffen! Er würde sofort aufstehen, hinausgehen und das Fahrrad holen ...
    Aufstehen – das konnte Teddy auch, dafür brauchte man kein Held zu sein ...
    Er stand tatsächlich auf und verließ die Küche. Bei der Haustür zögerte er. Die musste er zusperren, wenn er wegfuhr. Das hatte er vorhin beim Milchholen auch getan. Na also – warum sollte er es nicht noch einmal tun? Zack, zack, die Tür zu und den Schlüssel eingesteckt!
    Aber halt! Was dann, wenn er den Schlüssel irgendwo im Wald verlor? Dort fand man ihn nicht so leicht wieder, wie wenn er nur beim Einkaufen irgendwo auf die Straße fiel und dabei klirrte, sodass man es gleich hörte.
    Na wennschon! Teddy war ein Feigling, er fuhr sowieso nicht weg ...
    Einer, der kein Feigling war, würde als Nächstes das Fahrrad aus der Garage holen.
    Das brachte Teddy auch zusammen! Er probierte es gleich aus.
    „Ich fahr’ nicht in den Wald! Ich trau’ mich nicht!“, schrie das Fahrrad ängstlich.
    Schrie es das wirklich?
    Nein, natürlich nicht! Es hatte nichts dagegen, dass Teddy mit ihm wegfahren wollte. Zum Fahren war es ihm ja geschenkt worden – nicht zum Herumstehen!
    Teddy schob es aus der Garage hinaus und drückte die Tür zu. Auf einmal spürte er den Hausschlüssel in der Hosentasche und bekam Angst. In Gedanken sah er sich plötzlich, wie er den verlorenen Schlüssel verzweifelt im Wald suchte, in Gedanken sah er den Vater schimpfen, weil der Schlüssel verschwunden war ...
    Was würde jetzt ein mutiger Mensch tun?
    Teddy wusste es nicht; und da er selber ein Feigling war und Angst hatte, den Schlüssel zu verlieren, zog er ihn aus der Hosentasche heraus und versteckte ihn neben dem Garagentor unter einer Gießkanne.
    Wie weiter?
    Natürlich hinaus zum Gartentor und dann ab wie die Feuerwehr!
    Doch Teddy hatte Angst – Angst davor, dass ihn Roland auf der Straße aufhalten könnte ...
    War der denn auf der Straße?
    Ein mutiger Mensch würde jetzt einfach beim Gartentor um die Ecke spähen ...
    Um die Ecke spähen – das konnte Teddy auch. Er tat es, ganz vorsichtig.
    Kein Roland zu sehen!
    Wenn er aber unverhofft aus dem Garten herausgehüpft kam?
    Teddy zögerte abermals.
    Ein mutiger Mensch würde sich aufs Fahrrad schwingen und wie der Blitz an Rolands Elternhaus vorbeizischen ...
    Sich aufs Fahrrad schwingen – das war für Teddy keine Kunst. Das tat er gleich. Aber vorm Vorbeizischen hatte er Angst. Es konnte ja sein, dass er mit Roland zusammenstieß, falls der plötzlich auf die Straße sprang ...
    Einige Häuser weiter polterte es im Garten: Teddy ahnte, was das bedeutete: Roland „jagte“ – wie er das nannte – seinen Fußball mit ungestümen Tritten gegen das Garagentor. Bestimmt hätte er jetzt gern jemanden, dem er „ein paar Goals schießen“ konnte!
    Teddy wartete und horchte.
    Das Gepolter hörte nicht auf. Zwischendurch kreischte eine übermütige Knabenstimme: „Fernbombe! Wumm! Jippie! ... Und Nachschuss! Wumm! Goal! Jippie ...“
    „So ein dummer Kerl!“, dachte Teddy. Langsam fuhr er weiter, bis er den Schreihals sah: Den Rücken zur Straße gewandt, knallte Roland seinen Lederball unaufhörlich gegen das Garagentor. Obwohl niemand zu erblicken war, der ihm zuhörte, rief er immer wieder „Schuss!“ und „Wumm!“ und „Jippie!“. Einmal entwischte der Ball, nachdem er vom Tor zurückgeprallt war, und sprang in Richtung Gartentür. Roland keuchte fluchend hinterdrein. Knapp vor der Tür holte er den ledernen Ausreißer ein. Er stoppte ihn mit dem Fuß und warf einen flüchtigen Blick auf die Straße. Teddy war längst vorübergeradelt und bei der nächsten Kreuzung in die Ulrichstraße eingebogen.
    „Gemma, gemma!“, redete Roland wieder mit sich selber. Kurz darauf hörte man seine Stimme sogar noch in der Ulrichstraße: „Wumm! Goal! Jippie!“
    „Ha!“, dachte Teddy, nachdem er stehen geblieben war. „Der Esel hat gar nichts gemerkt.“
    Wie weiter? Konnte jetzt das Abenteuer „Schatzsuche“ beginnen?
    Nein, Teddy traute sich nicht. Er überwand sich zwar dazu, noch ein Stückchen weiterzufahren – einfach nur spazieren zu fahren, aber mehr nicht ...
    Den Seitenweg zum Maisfeld fand Teddy gleich wieder, und wenige Minuten später erreichte er die Wiese mit den Kühen. Abermals hielt er an. Eine Weile schaute er den Tieren beim Fressen zu und grübelte darüber nach, wie viele Grashalme sie an diesem Tag verspeist hatten. Ein paar hundert? Ein paar tausend? Oder noch mehr?
    Bis zur Unterführung wollte Teddy noch weiterradeln. Doch die Spazierfahrt begann ihm zu gefallen, also kehrte er an der Stelle, wo der Feldweg unter der Bundesstraße durchführte, noch nicht um. Mitten in der Unterführung blieb Teddy stehen. Er blickte nach oben zur Betondecke und überlegte, ob das Bergwerk auch so groß und breit wäre. Eine Antwort auf diese Frage würde er wohl nie bekommen – außer wenn er weiterfuhr.
    Was hinderte ihn daran?
    Vorläufig nichts. Also setzte er seinen Ausflug fort, bis er den grauen Wohnblock erblickte. – Ah, die Hundesiedlung! Endstation ...
    Warum denn?

Ich biege ab beim grauen Haus
und trickse alle Hunde aus!

    Zögernd wagte sich Teddy weiter. Drüben beim Zaun, hinter dem am Vortag die schwarze „Bellmaschine“ aufgetaucht war, schien alles ruhig zu sein. Aber womöglich war der Schäferhund nicht hinterm Zaun eingesperrt ...
    Bei diesem Gedanken blieb Teddy erschrocken stehen. Es fehlten nur noch ein paar Radlängen bis zur Abkürzung. Aber was dann, wenn der Hund plötzlich auf der Straße dahergesprungen kam?
    Zu dumm! So weit hatte Teddy es schon geschafft! In fünf Minuten konnte er beim Forstweg sein; in zehn Minuten beim „Einserweg“; er war fast am Ziel ...
    Aufgeregt sah er sich in alle Richtungen um. Hätte er auch nach oben zu einem Fenster im dritten Stock des grauen Hauses hinaufgeschaut, wäre ihm hinter einem geblümten Vorhang etwas aufgefallen. – Nein, nicht der schwarze Schäferhund; auch nicht die braune Bulldogge oder der weiße Spitz, nein; eine schwarze Pudeline ...
    Plötzlich tat Teddy etwas, was für einen „Angstling“ und „Feighasen“ geradezu tollkühn war: Er fuhr weiter, bog hastig in die Abkürzung ein und verschwand hinter dem Gebüsch, noch bevor irgendeine „Bellmaschine“ es merkte.

Die „Schatzsuche“ hat für Teddy also begonnen. Aber so einfach ist das nicht – schon gar nicht so einfach wie in dem Abenteuerbuch, in dem ein gewisser Mario einen Silberschatz sucht. Mario hat es leicht, weil seine kleine Freundin Marianna zaubern kann. Konnte das Teddys Freundin Meli zur Not vielleicht auch ...?

 

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